Von Holger Preiss 29.04.2022, 21:11

Die Menschen sind verzaubert am 9. Mai, dem Tag, an dem traditionell der Sieg Russlands über die deutschen Faschisten gefeiert wird. Angesichts der Lage im Krieg gegen die Ukraine wächst der Verdacht, dass Putin den Tag nutzen könnte, um zu einer allgemeinen Mobilmachung aufzurufen. Wie der Krieg in der Ukraine weitergeht, hängt Experten zufolge maßgeblich von einem Tag ab. Ein Tag, der in der ehemaligen Sowjetunion und im heutigen Russland als Tag des Sieges über das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg und damit bis zum Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“ gefeiert wird. In Deutschland und in vielen Teilen Europas steht der 8. Mai als Tag der Befreiung im Kalender. Wieso den; Denn in Russland gilt das Datum der Ratifizierung der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 9. Mai um 00.16 Uhr Ortszeit in Berlin als Kriegsende. Wie dem auch sei, der Tag ist für Russland historisch belastet. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace hat die Sun gewarnt, dass der russische Präsident Wladimir Putin den 9. Mai nutzen könnte, um seine Truppen in einem “Krieg gegen eine Nazi-Welt” einzusetzen. Auch die Chefredakteurin des staatlichen Fernsehsenders RT, Margarita Simonjan, hält die Propagandamaschine im russischen Fernsehen am Laufen. Der Propagandist wies darauf hin, dass Putin eher einen Atomschlag starten würde, als Russland den Krieg verlieren zu lassen. “Entweder wir verlieren in der Ukraine, oder der Weltkrieg beginnt”, erklärte Simonian. Wie hasserfüllt die Auseinandersetzung im russischen Staatsfernsehen geführt wird, zeigt auch Simonjans Aussage zu einem möglichen Kriegsszenario: „Wir fahren ins Paradies, während die Feinde nur schreien“, erklärt er und endet mit dem Satz: „Ich werde alle sterben eines Tages.“

Putin steht unter Druck

Die Phrase im russischen Staatsfernsehen und in der politischen Rhetorik soll offenbar dem Volk die Treue schwören in einem langjährigen Krieg, der ursprünglich als “Zwei-Tage-Krieg” geplant war. Inzwischen sind mehr als zwei Monate vergangen und vom versprochenen Sieg über die “ukrainischen Faschisten”, wie russische Politiker und Staatsfernsehen sie nennen, ist nichts zu sehen. Im Gegenteil, die russische Armee erlitt schwere Verluste und wurde an kritischen Stellen sogar zurückgeschlagen. Ein begrenzter Angriff soll nun dafür sorgen, dass zumindest der Donbass und die Südukraine sicher sind. Gelingt das bis zum 9. Mai, könnte Putin den Tag auf zwei Arten als Tag des Sieges feiern. Es könnte auch eine Gelegenheit für Putin sein, der Ukraine Verhandlungen anzubieten. Der russische Außenminister Sergej Viktorowitsch Lawrow betonte im russischen Staatsfernsehen, dass “die Gefahr einer Eskalation des Krieges real ist”. (Foto: dpa) Aber es gibt auch andere Stimmen, wie zum Beispiel Kriegsanalysten des Royal United Services Institute for Defense and Security Studies, Jack Watling und Nick Reynolds. In ihrer Studie über Russlands „Operation Z“ gehen sie davon aus, dass Putin am 9. Mai nicht den Sieg verkünden, sondern das russische Volk zur Mobilmachung aufrufen wird. In der Akte heißt es: “Der 9. Mai wurde von einer Frist für den Sieg zum Beginn einer riesigen Mobilisierung”. Beide Autoren schreiben, die russische Führung habe längst erkannt, dass es Zeit brauche, um die Ziele in der Ostukraine zu erreichen. Deshalb erwarten Watling und Reynolds im Sommer einen “großen Angriff”.

Die Debatte wird sich um den Krieg drehen

Die Autoren spekulieren auch, dass die russische Führung ab dem 9. Mai nicht mehr von einer “militärischen Spezialoperation” gegen die Ukraine sprechen wird, sondern von “Krieg”, ein Begriff, der verwendet wird, um den Angriff auf die Ukraine in Russland zu beschreiben, sollte nicht definiert werden. Seit einiger Zeit beobachten Watling und Reynolds eine Verschiebung in der Rhetorik der russischen Führung über einen Einmarsch in die Ukraine. Der Konflikt mit den “Angelsachsen” und der Nato steht hier nun im Mittelpunkt. Auch Experten des Centre for European Policy Analysis (CEPA) sehen eine Eskalation des Krieges in der Ukraine. Unter Berufung auf russische Geheimdienstberichte gehen die Autoren davon aus, dass das russische Militär die bisherige Strategie für einen fatalen Fehler hält. Während die Nato-Staaten die Ukraine mit schwereren Waffen versorgten, kämpften die russischen Truppen unter “friedlichen Bedingungen” weiter. Luftangriffe werden “nur” auf einige wichtige Ziele der ukrainischen Infrastruktur durchgeführt, aber nicht konsequent gegen einen ständig aufgerüsteten Feind. Nach den daraus gezogenen Schlussfolgerungen ist nun eine umfassende Mobilisierung erforderlich. Damit würde sich der Krieg gegen die vermeintliche Brudernation drastisch ausweiten, mit zunehmenden Verlusten auch auf russischer Seite. Bis heute war die NATO versucht, all dies als Waffenabsturz abzutun. Doch es gibt bereits warnende Stimmen. „Es könnte nur eine Drohgeste aus Russland sein. Aber wenn es stimmt, dass Putin seinen Kurs ändert, sollte das Risiko nicht unterschätzt werden“, sagte Mike Mazarr, Verteidigungsexperte bei der Rand Corporation. Eine landesweite Mobilisierung und Putins Ankündigung vom 9. Mai, das Land befinde sich ab sofort im Krieg, würde auch “die Vereinigten Staaten in große Bedrängnis bringen”. Denn es ist nicht zu erwarten, dass sich die Ukraine, die USA oder europäische Länder zurückziehen. Auch ein russischer Sieg scheint bis dahin nicht in Frage zu kommen. In jedem Fall birgt Putins Mobilisierung erhebliche politische Risiken, sogar eine Eskalation des Krieges.