Es ist schon fast ein Politikum geworden: Soll die Migros erstmals seit ihrer Gründung vor fast 100 Jahren wieder Tabak und Alkohol verkaufen? Migros-Vertreter wollen das, aber die Konsumenten sehen das offensichtlich anders. Das zeigte eine am Montag veröffentlichte Tamedia-Studie, in der die Mehrheit der Teilnehmer die Aufhebung des Verbots ablehnte: 46 Prozent waren klar dagegen, nur 27 Prozent waren klar dafür. Ob das wirklich so kommt, wird dieser Sommer zeigen. Die Hürden sind hoch, zwei Drittel der Genossenschaftsmitglieder müssen zustimmen. Es wäre ein historischer Bruch mit der damaligen Haltung des Gründers Gottfried Duttweiler. Auch ein Blick auf die Geschichte der Migros und des Alkoholverbots zeigt: Dies ist nicht der erste Versuch, dieses zu stürzen. Und: Nicht nur seit der Diskussion um das politische Thema «Alkohol und Tabak» war die Migros beim Verkaufsverbot weniger streng. Die Chronologie eines fast hundertjährigen Gedankens:

1925: Gründung der Migros AG

Gottlieb Duttweiler gründet die Migros AG – zunächst mit nur fünf mobilen Verkaufsfahrzeugen. Die ersten und einzigen sechs Produkte: Kaffee, Seife, Reis, Kokosöl, Zucker und Hörnli-Nudeln. Laut Migros sind nicht nur die Verpackungen grösser als bei der Konkurrenz, auch die Preise sind 10 bis 30 Prozent tiefer. 1927 eröffnete er das erste Verkaufsgeschäft.

1928: Verbot des Alkoholverkaufs

Gründer Duttweiler stört sich an den “zerstörerischen Schnapsgewohnheiten” der Menschen in der Schweiz. Zur Förderung der Volksgesundheit, als Kampf gegen das «Allmachtskapital Alkohol» und gegen die durch die Alkoholsucht verursachte Armut beschliesst Duttweiler, in den Migros-Filialen keinen Alkohol mehr zu verkaufen. Stattdessen wirbt sie nach der Übernahme und Restrukturierung der hoch verschuldeten “Alkoholfreie Weine AG” erfolgreich für den Kauf von Süßmost. Es verfolgt die „Loss-Leader-Strategie“, dh es verkauft zu sehr niedrigen Preisen, um Kunden anzulocken. Süßer Apfelwein von Miles wird später immer viel billiger sein als Bier.

1936: Gründung des LdU

Dutweiler reagiert auf seinen Ruf als Mann mit klaren Werten und Überzeugungen und gründet eine eigene Partei: den LdU (Landesring der Independenten). Stellt eigene Listen für die Bundestagswahlen zusammen. Ziel: Eine Partei schaffen, die die Interessen der Arbeitnehmer, vor allem aber der Konsumenten vertritt, und die Macht von Interessengruppen und Kartellen in der Bundesversammlung bekämpfen. Auf ihrem Höhepunkt erhielt die Partei mehr als neun Prozent der Stimmen.

1948: Erste Abstimmung über das Alkoholverbot

Im Zuge der Expansion der Migros in die Westschweiz wird das Thema Weinverkauf diskutiert. Duttweiler ließ die Mitglieder der Genossenschaft – 1941 wurde die Migros AG Genossenschaft – darüber abstimmen, ob die Migros Wein verkaufen sollte. Eine knappe Mehrheit von 54 Prozent sagte nein. In den Genossenschaften der Romandie und des Tessins hingegen gibt es ein klares Ja.

1950: Duttweiler Dissertationen

Gottlieb Duttweiler und seine Frau Adele veröffentlichen ihre 15 Dissertationen, um der Migros einen «moralischen Kompass» zu geben. Dazu ein Beispiel: „Das Allgemeininteresse muss Vorrang vor den Interessen der Genossenschaft Migros haben. “Geschäftsexpansion und Rentabilität müssen dorthin und danach verschoben werden, wenn die höchsten Ziele durch die Zusammenarbeit mit anderen Genossenschaften effektiv gefördert werden können.” Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler hält 1949 eine Rede. Foto: Schweizerisches Landesmuseum / ASL

1983: Gesetzliches Alkoholverbot

Mehr als 20 Jahre nach Dutweilers Tod verbieten neun von zehn Genossenschaften (ohne Genf) den Verkauf von Alkohol auch formell in ihren Statuten und Verträgen.

1997: Erwerb von Globus

Die Migros übernimmt die Warenhauskette Globus. Damit dies möglich ist, muss die Satzung geändert werden. Der Grund: Globus hat auch Alkohol im Sortiment.

2007: Übernahme der Denner AG

Die Migros übernimmt 70% des Aktienkapitals der Denner AG. Denner ist neben Coop der grösste Alkoholanbieter der Schweiz. Seitdem öffnen Denner-Filialen möglichst in unmittelbarer Nähe zu den Migros-Filialen. Dies macht es Migros-Kunden leicht, Spirituosen in ihre täglichen Märkte aufzunehmen. Migros und Denner stehen oft nebeneinander: Filialen im Kanton Zug Bild: keystone

2018: Wechsel in der Geschäftsführung

Fabrice Zumbrunnen folgt auf Herbert Bolliger, der nach 13 Jahren per Ende 2017 in den Ruhestand geht. Bolliger hatte sich schon vor seinem Rücktritt entschieden gegen den Verkauf von Alkohol an die Migros ausgesprochen: Die Identität der Migros dürfe nicht verändert werden. Auch 2022 wird Bolliger als großer Alkoholiker in der Debatte stehen.

2020: Alkohol im Migros Onlineshop

Nach der Umbenennung von leshop.ch, dem Onlineshop der Tochtergesellschaft Le Shop, in Migros Online, hat die Migros-Vertretung im März 2020 beschlossen, das Angebot an alkoholischen Getränken im Migros-Onlinehandel beizubehalten. Die Mitglieder der Genossenschaft werden nicht konsultiert. Seitdem verkauft der Händler alkoholische Getränke, Wein und Bier online.

2021: Die Aufhebung des Verbots beginnt

2021 verliert die Migros erstmals ihren Marktanteilsvorsprung an Coop. Im gleichen Jahr wurde das Alkohol- und Tabakverkaufsverbot erstmals wieder aufgehoben: Fünf Vertreter der Migros – also gewählte Vertreter der zehn Genossenschaften – forderten eine Volksabstimmung für den Verkauf von Alkohol in den Filialen Migros. Im November brachten mehrere Migros-Vertreter einen Antrag auf Statutenänderung auf die Agenda. Ziel: Über den Verkauf von Alkohol in den Migros-Filialen entscheiden die regionalen Genossenschaften. Mit 85 zu 22 Stimmen unterstützt die Migros-Abgeordnetenversammlung eine solche Abstimmung. Damit aber alle Genossenschaften im Jahr 2022 laufen, müssen die zehn regionalen Genossenschaftsräte – eine Art Parlament aus weiblichen Mitgliedern ihrer jeweiligen Genossenschaft – mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen. Dies geschieht, wenn alle zehn Räte im Dezember abstimmen.

Was passiert als nächstes?

Die rund 2,3 Millionen Mitglieder der zehn Migros-Regionalgenossenschaften können bis zum 4. Juni zum “kritischen Alkoholthema” an die Urnen gehen. Laut der Website des Händlers erhalten sie die Unterlagen Anfang Mai. Ab dem 16. Mai kann direkt in den Filialen der Migros abgestimmt werden. Begleitet wird die Abstimmung von einer Aktion der Migros: Je nach Abstimmungsergebnis wird ein Bier mit einem «Oui» oder einem «Non» auf dem Etikett ins Sortiment aufgenommen. Im letzteren Fall ist das Bier alkoholfrei. Laut Migros “unterstützt die Kampagne den demokratischen Prozess, der von fünf Vertretern der Basis initiiert und letztes Jahr von allen nationalen und regionalen Migros-Gremien genehmigt wurde.”

Erforderlich ist wieder eine Zweidrittelmehrheit

Zur Klärung der Alkoholfrage in der Migros führen die zehn Migros-Genossenschaften in ihrem Bereich eine Parallelabstimmung durch. Wie bei den Genossenschaftsräten muss eine Zweidrittelmehrheit – diesmal die 2,3 Millionen Genossenschafter – dem Verkauf von Alkohol an die Migros zustimmen. Da alle Genossenschaften individuell abstimmen, ist es sehr wahrscheinlich, dass einige ab 2023 Alkohol in ihr Sortiment aufnehmen – und für andere alles andere beim Alten bleibt.

Die 10 Migros-Genossenschaften

warnende Stimmen

Der ehemalige Migros-Chef Bolliger kämpft in der Nicht-Kommission «Gruppe für die M-Werte» öffentlich und zusammen mit anderen ehemaligen Mitarbeitenden gegen die Aufhebung des Verbots. Mit dem Slogan “Not my beer!” das Komitee will die Mitglieder der Genossenschaft zur Ablehnung bewegen. Auch das Blaue Kreuz will keinen Alkohol in der Migros und beteiligt sich aktiv am Wahlkampf. Philipp Hadorn, Präsident des Blauen Kreuzes, argumentierte im vergangenen Jahr: „Trockene Alkoholiker sind ständig in Gefahr, in ihre alte Sucht zurückzufallen.“ Selbst ein schwacher Auslöser kann zu viel sein. Die Migros ist mit ihren Supermärkten in der Schweiz allgegenwärtig. “Wenn Genossenschaften Ja sagen würden, wäre die Versuchung, Alkohol zu trinken, in Zukunft allgegenwärtig.” Die Gottlieb und Adele Duttweiler Stiftung hat entschieden, die Abstimmung zuzulassen. Bei der Abstimmung wurde vor allem der Flickenteppich kritisiert: Auf dem Stimmzettel wäre eine Zusatzfrage willkommen, „wenn zum Beispiel bei einer Mehrheit von sechs Alkoholgenossenschaften auch die anderen vier dazu verpflichtet werden sollen“, so der Präsident der Stiftung, David Bosart, im Gespräch mit dem Migros Magazin. Auf die Frage, was Duttweiler selbst zur Abstimmung sagen würde, antwortet Bosshart diplomatisch: «Aufgrund seiner Schriften liegt die Vermutung nahe, dass er weiterhin alles der Frage unterordnen wird, was die Migros-Gemeinschaft und Ideen nachhaltig stärkt. „Um den Flickenteppich zu vermeiden, hofft die Stiftung auf ein klares Ergebnis – egal in welche Richtung.

Was würde die Einführung des Alkoholverkaufs für die Migros bedeuten?

Warum Migros …